Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde – mit diesem Satz beginnt die Bibel. Die erste Schöpfungsgeschichte erzählt wie Gott einen geordneten Kosmos aus dem Nichts geschaffen hat. Sein erstes Geschöpf ist das Licht, gefolgt von den Lebensräumen Himmel und Erde. Sie werden auf sein Geheiß hin bevölkert mit Pflanzen, Tieren und Menschen (Abb.1). Ziel der Schöpfung – und zugleich der Anfang von allem, was auf sie folgt –, ist der Ruhetag, die Sabbatfeier Gottes, zu der die neugeschaffenen Menschen eingeladen sind. Sie haben sich also nicht als Erstes ans Werk gemacht, von dem sie sich dann erholen müssten, wie Karl Barth in seiner Schöpfungslehre hervorhebt. Nein, das Ziel ihrer Existenz ist zugleich ihr Ausgangspunkt: die geschenkte Ruhe, Freiheit, Feier und Freude in der Gemeinschaft mit Gott. Im Christentum ist der Sonntag – der erste Tag der Woche, an dem Jesus auferweckt wurde – an die Stelle des Sabbats als Ruhe- und Feiertag getreten. Damit wird dieser Aspekt der Schöpfungsgeschichte unterstrichen: dass der Mensch sich aus der Ruhe heraus an die Arbeit macht und aus der Freude heraus an den Ernst des Lebens. Die Woche ist also kein mühsamer Aufstieg zum werkfreien Tag, sondern ein freudiges Heruntersteigen von der Höhe des Sonntags. An diesem Tag sind die Christenmenschen eingeladen, sich für die Begegnung mit Gott zu öffnen und die Gemeinschaft mit ihm im Gottesdienst zu feiern. Der Klang der Kirchenglocken (Abb. 2) begleitet sie auf ihrem Weg zu den Orten, die für den Gottesdienst gebaut und bestimmt sind. Das ist die eine Verbindung zwischen Kirchen und Schöpfung. Eine weitere Verbindung ist diese: Kirchen bieten spezielle Lebensräume (Biotope) für die Mitgeschöpfe des Menschen.
Am Beispiel des Kölner Doms, der nicht nur die bekannteste Kirche in Deutschland, sondern auch das meistbesuchte Bauwerk des Landes ist, kann das deutlich gemacht werden (Kremer/Günthner, 2014). Der Dom ist schon aus zahllosen Perspektiven betrachtet worden: geologischen, archäologischen, baugeschichtlichen, kunsthistorischen, theologischen, literarischen, sozioökonomischen, ... . Nicht außer Acht zu lassen ist jedoch auch der ökologische oder biologische Blickwinkel. Eine Besonderheit dabei ist die Lage am Rheinufer (Abb. 3): Der Kölner Dom ist ein künstliches Gebirge (Abb. 4) in einer ansonsten vollständig flachen Umgebung. Unter anderem deshalb bietet er eine einzigartige Siedlungsfläche für Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere. Er ist "Heiligtum und Habitat" – ein vielgipfliges und nischenreiches Biotop von vielerlei Lebensgemeinschaften. Allein seine "lebende Patina" aus Algen, Bakterien sowie anderen Klein- und Kleinstlebewesen (Abb. 5), die sich an den zahllosen gotischen Bauteilen wie Fialen, Kreuzblumen und Wimpergen festgesetzt haben, wird auf eine Masse von etwa 1000 Tonnen geschätzt! In der Biologie werden fünf Organismenreiche unterschieden: Tiere, Pflanzen, Pilze, sowie Einzeller mit und ohne Zellkern. Jedes dieser Organismenreiche ist mit Dutzenden von Arten auf dem Dom vertreten. Ihre Auflistung wird – wie der Dom selbst – immer unvollendet bleiben, allein schon der ständigen Zu- und Abwanderung wegen. Ein frischer Vogelkotspritzer oder einige in einer Nische zusammengewehte Textilfasern, Staubkörner und Schmetterlingsschuppen bieten immer wieder neue Lebensgrundlagen und laden zur Besiedlung ein.
Zur "lebenden Patina" fast einer jeden Kirche zählen die Algen, die alle für ihr Wachstum Feuchtigkeit benötigen. Nach ihrer Färbung lassen sie sich unterscheiden in die blau- bis schwarzgrünen Blaualgen (Cyanobakterien), die sich gerne an besonders schattigen und feuchten Stellen ansiedeln, die bräunlichen Rotalgen und die Grünalgen, die hell- bis sattgrün gefärbt sind (Abb. 6). Der Algenbewuchs ist an vielen Kirchen zu beobachten und kann überraschende Effekte hervorrufen (Abb. 7). Speziell bei Rotalgen kann er jedoch auch zum Problem werden – zumal wenn nach Renovierungsmaßnahmen die Luftzirkulation und damit die Trocknung der Außenwände vom Kircheninnenraum her erschwert ist und dadurch die Feuchtigkeit auf den Fassaden stark zunimmt (Abb. 8).
Eine besonders innige Verbindung besteht zwischen Kirchen und Flechten. Im Englischen gibt es darum eigens die Bezeichnung "Churchyard Lichens". Flechten wachsen sehr langsam und können Hunderte von Jahren alt werden. Auf Kirch- und Friedhöfen sowie Kirchengebäuden, die lange Zeit unverändert bleiben, finden Flechten ebenso unterschiedliche wie geeignete Standorte, die eine große Artenvielfalt und gutes Gedeihen ermöglichen (Abb. 9). Nach ihrer Wuchsform werden drei Haupttypen von Flechten unterschieden: Krustenflechten, die mit ihrer ganzen Fläche mit ihrer Unterlage (Substrat) verwachsen sind (Abb. 10), Blattflechten, die Lappen ausbilden und ebenfalls flächig wachsen, aber nur an einzelnen Stellen mit ihrer Unterlage verbunden sind (Abb.11), und Strauchflechten, die eher in die Länge als in die Fläche wachsen und busch- oder bartartig von der Unterlage abstehen (Abb. 12). Zu den "Churchyard Lichens" gehören vor allem die Krusten- und Blattflechten.
Die Besonderheit von Flechten ist, dass sie sogenannte substrattrockene Unterlagen besiedeln können. Sie haben keine Wurzeln – nur Haftorgane; eine Aufnahme von Wasser und Mineralstoffen aus dem Substrat ist nicht notwendig. Darum sind sie auch keine Schmarotzer, schädigen also die Flächen nicht, auf denen sie haften. Aufgrund ihrer faszinierenden Eigenschaft als Doppellebewesen sind sie in der Lage, auf nacktem Stein zu wachsen, aber auch auf vielen anderen Oberflächen wie Baumrinde, Holz, Dachpappe, Metall und Beton. Bei Flechten handelt es sich um eine komplexe Lebensgemeinschaft (Symbiose) aus jeweils einer Pilz- und einer Algenart, die untrennbar zusammenleben. Sowohl Grün- als auch Blaualgen können zum Partner in diesem speziellen ökologischen System "Flechte" werden. Die Alge ist zur Photosynthese fähig und produziert Kohlenhydrate für sich und den Pilz, der mit seinem Fadengeflecht die Algenzellen umhüllt und so vor dem Austrocknen schützt. Diese Symbiose ist ein Erfolgsrezept, das die ökologischen Möglichkeiten stark erweitert. Flechten können so äußerst langlebig an extremen Standorten leben, die den einzelnen Partnern allein verschlossen wären und an denen auch sonst keine höhere Vegetation möglich ist.
Viele Flechtenarten sind in der Lage, ganz ohne flüssiges Wasser auszukommen, also den Wasserdampf in der Luft zu nutzen. Auch Mineralstoffe beziehen sie aus der Luft, die sie ebenso wie Regenwasser ungefiltert aufnehmen. Daher gedeihen sie nur bei ausreichend guter Luftqualität und eignen sich diesbezüglich als Bioindikator. Dennoch sind die Ansprüche der Flechtenarten an ihr jeweiliges Substrat ziemlich spezifisch. Oft besiedeln sie nur entweder Silikatgestein oder Kalkgestein, entweder Rinde, Holz, immergrüne Pflanzen oder Erdboden. Aber es gibt auch Arten, die auf unterschiedlichen Substraten gedeihen (Abb. 13).
Besonders interessant im Zusammenhang mit Kirchen ist die Tatsache, dass auf Steinen wachsende Flechten in der Regel nur auf einer der beiden Gesteinsgruppen, sauer oder basisch, vorkommen. Diese Gruppen unterscheiden sich nach dem Kieselsäuregehalt: Ist er hoch, werden sie als sauer oder auch als Silikatgestein bezeichnet, ist er niedrig, ist die Rede von basischen und ultrabasischen Gesteinen, die auch Kalk- oder Karbonatgesteine genannt werden. Saure Gesteine wie Granit, Schiefer und siliziumreiche Sandsteine sind meistens hell gefärbt. Basische Gesteine wie zum Beispiel Basalt, Marmor und Kalkstein sind tendenziell eher dunkel. Die Vielfalt an Gesteinen ist auf Friedhöfen mit Grabsteinen aus unterschiedlichem Material oft höher als anderswo. Darum lassen sich dort besonders viele verschiedene Arten von Flechten beobachten – wobei die Identifizierung des Substrat-Gesteins als sauer oder basisch sehr hilfreich für die Bestimmung der darauf wachsenden Flechtenart ist (z. B. "Landkartenflechte" auf Granitgrabstein, Abb. 14).
Neben Flechten lassen sich auch Moose und Farne gerne in Fugen zwischen Werksteinen und Vertiefungen an Kirchengebäuden und Mauern nieder. So sind auf dem Kölner Dom etwa ein Dutzend Laubmoosarten heimisch (Abb. 15). Der Bewuchs ist wie bei Bäumen so auch an Kirchen stärker an der Nord- oder Wetterseite (Abb. 16). Sobald sich in Spalten oder Winkeln durch Gesteinsverwitterung oder durch den Wind herangetragenen Staub genügend Substrat angesammelt hat, siedeln sich dort auch Blütenpflanzen (Abb. 17), zum Beispiel Gräser, Büsche und Bäume an (Abb. 18a). Die auch in dieser Hinsicht bemerkenswerte Kölner Domflora wurde erstmals in einem Buch von 1862 beschrieben. Zu dieser Zeit bestand der Dom erst aus dem Chor, den Schiffen bis zur Höhe der Seitenschiffkapitelle und den ersten 50 Metern des Südturms.
Aber nicht nur außen, auch im Innern von Kirchen lassen sich an vielen Stellen Pflanzen aufspüren – meistens von Menschen geschaffene, aber Ausnahmen bestätigen die Regel (Abb. 18b). Vor allem in Kirchen mit mittelalterlicher Ausstattung finden sich oft sehr naturgetreue Pflanzendarstellungen zum Beispiel auf Kirchenfenstern, Gemälden, Gestühlen und Konsolen (Abb. 19). Sie geben dort jedoch nicht einfach nur die Natur wieder, sondern sind bei aller Akkuratesse als Sinn-Bilder zu verstehen, die zusätzliche Botschaften vermitteln wie sich am Beispiel des "Grünen Mannes" zeigen lässt (Abb. 20). Besonders eindrücklich was die Naturtreue angeht, sind die Pflanzennachbildungen an den Sandstein-Kapitellen des Westchores im Naumburger Dom. (Abb. 21 und 22) Im "Garten des Naumburger Meisters" am Dom (Abb. 23) sind einige der Pflanzen im Original zu sehen, die dem anonymen Dombaumeister als Vorbilder für seine so überzeugend wirklichkeitsnahen Pflanzendarstellungen dienten. Auf acht Stahlstelen finden sich Fotos der Kapitelle sowie Zeichnungen und Beschreibungen der Pflanzen – und direkt daneben können die Besucher*innen die lebenden Originale betrachten, unter anderem Efeu, Wein, Beifuß, Feige, Wermut, Mariendistel und Hahnenfuß.
Ob in oder außerhalb einer Kirche: Pflanzen als Geschöpfe verweisen auf den Schöpfer, ebenso wie die Tiere, die Kirchen als Biotope nutzen – allen voran Vögel und Fledermäuse. Daran erinnert zum Beispiel der "Eulenturm" des Klosters Hirsau (Abb. 24). Kirchen überragen in der Regel die umgebenden Gebäude an Höhe und sind zudem noch mit Türmen ausgestattet, die von bestimmten Tierarten als Brut- und Lebensraum genutzt werden. Der Turmfalke als Kulturfolger des Menschen, der früher in alten Baumhöhlen nistete, trägt den Bezug bereits im Namen. Für ihn, aber auch für Fledermäuse, Schleiereulen, Mauersegler, Dohlen, Störche (Abb. 25) und andere bedrohte Arten hat der Naturschutzbund Deutschland (NABU) zusammen mit dem Beratungsausschuss für das deutsche Glockenwesen 2007 die Aktion "Lebensraum Kirchturm" ins Leben gerufen. Damals war der Turmfalke "Vogel des Jahres" – ein Vogel, der inzwischen wie kaum ein anderer auf Nistmöglichkeiten in Kirchtürmen angewiesen ist. Bei Kirchturmsanierungen werden aber immer wieder Einfluglöcher oder Brutnischen verschlossen oder Gitter zur Abwehr von Tauben angebracht. Auch kleine Arten wie Spatz oder Hausrotschwanz werden damit ausgesperrt. Kirchengemeinden, denen der Artenschutz ein Anliegen ist, können sich an der Aktion "Lebensraum Kirchturm" beteiligen, indem sie Brutmöglichkeiten und Biotope verbessern oder neue schaffen. Sie werden mit einer Urkunde ausgezeichnet und erhalten eine Plakette, die sie an ihrer Kirche anbringen können (Abb. 26). Über 1100 Gemeinden in Deutschland haben sich bereits beteiligt; hier eine Übersicht der ausgezeichneten Kirchen.
Vor allem rund um Innenstadtkirchen werden nistende Vögel nicht nur positiv gesehen: Jede erwachsene Taube setzt jährlich etwa 8 kg Nasskot ab, der Fassaden und Figurenschmuck beschmutzt und auch beschädigen kann (Abb. 27). Im Kölner Dom wird darum die Vermehrung der Tauben durch ein naturschutzkonformes Populationsmanagement unter Kontrolle gehalten.
Manche Kirchengemeinde musste sich auch mit Fledermäusen im Dachstuhl erst anfreunden bevor es zu Schutzmaßnahmen kam. Das Große Mausohr sowie die in Deutschland äußerst selten vorkommenden beiden Hufeisennasen-Arten und die Wimperfledermaus fühlen sich als freihängende Arten besonders in Kirchen heimisch. Die geräumigen Dachstühle und ungestörten Türme der Kirchen werden von Fledermäusen oft als Sommerquartier genutzt. Kirchtürme haben daher "bestandserhaltende Bedeutung". Eine Kartierung des Naturschutzbundes NABU in der Region Oberschwaben ergab, dass mehr als die Hälfte von rund 500 Kirchen und Kapellen noch von Fledermäusen bewohnt ist. Alle heimischen Fledermausarten sind in Deutschland besonders streng geschützt und das bedeutet, sie dürfen auch in ihren Quartieren nicht gestört werden. Das kann dazu beitragen, dass die Planungen von Renovierungsmaßnahmen etwas aufwändiger werden. Aber nicht nur in Deutschland (Abb. 28), setzt sich die Erkenntnis immer mehr durch, dass Artenschutz in und an Kirchen – und natürlich auch auf Friedhöfen (Abb. 29) – ein unerlässlicher Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung ist.
Ob das auch für die Kirchenmaus gilt? "Ich habe ihm ja meinen ganzen Besitz verpfändet; ich bin arm wie eine Kirchenmaus!", heißt es in Fjodor Dostojewskis "Der Spieler". Die Redewendung ist außer in Russland und Deutschland auch in Frankreich und Schottland geläufig, was für ihr hohes Alter spricht. Ihr Hintergrund: In den Kirchen der meisten Konfessionen gibt es außer Oblaten und Abendmahlswein keine Nahrung und darum auch für Mäuse nichts zu knabbern - dennoch können hier und da Kirchenmäuse entdeckt werden (Abb. 30).
TuK Bassler, April 2021
Zuletzt geändert: November 2022
Allianz Umweltstiftung, Neugestaltung des Naumburger Domgartens, https://umweltstiftung.allianz.de/projekte/leben-in-stadt/naumburg.html 10.04.2021.
Karl Barth, Die Lehre von der Schöpfung, Kirchliche Dogmatik III,1, Zürich 1988.
Ulrike Bührer-Zöfel, Gruorn. Rotalgen und Feuchtigkeit: Sanierungsfall Stephanuskirche, 2017, https://www.swp.de/suedwesten/staedte/muensingen/rotalgen-und-feuchtigkeit_-sanierungsfall-stephanuskirche-24246294.html 10.04.2021.
Claudia Burst, Kirche als Lebensraum, https://www.evangelisches-gemeindeblatt.de/regionales/nordwuerttemberg-ostalb/detailansicht/kirche-als-lebensraum-1572/ 10.04.2021.
European Christian Environmental Network, Gesegnete Vielfalt. Kirchen in Europa aktiv für Artenschutz, 2011, https://www.umwelt.elk-wue.de/fileadmin/mediapool/gemeinden/E_umwelt_neu/Download-Dokumente/gesegnete-vielfalt-ecen-agu-zweite-fassung.pdf 11.04.2021.
Frank S. Dobson, A Field Key to Common Churchyard Lichens, New Malden, 2013.
Fjodor M. Dostojewski, Der Spieler, München 1982.
Bruno P. Kremer und Iris Günthner, Die Ökologie des Kölner Doms. Umfeld, Steine, Lebensräume, Rheinischer Verein (Hg.), Köln 2014.
Klaus Richarz, Fledermäuse beobachten, erkennen und schützen, Stuttgart 2015.
Oliver Vorwald, Das Kirchenlexikon - Arm wie eine Kirchenmaus, https://www.ndr.de/kirche/Das-Kirchenlexikon-Arm-wie-eine-Kirchenmaus 10.04.2021.
Volkmar Wirth und Ulrich Kirschbaum, Flechten einfach bestimmen. Ein zuverlässiger Führer zu den häufigsten Arten Mitteleuropas, Wiebelsheim 2017.