Was sind Stabkirchen?
Die Anfänge der Christianisierung und des Kirchenbaus in Norwegen
Die erste Generation: Beispiel Vorgängerkirche von Urnes
Die zweite Generation: Beispiel Urnes
Die dritte Generation: Beispiel Borgund
Stabkirchen ohne und mit erhöhtem Zentralraum
Baumaterial Holz
Die geschnitzten Portale
Stabkirchen in nachmittelalterlicher Zeit
Quellen
Stabkirchen sind mittelalterliche Holzkirchen in vertikaler Bauweise, die über 900 Jahre skandinavischer Kirchengeschichte anschaulich und begreifbar machen. Das norwegische Wort dafür ist „stavkirker“; es ist vom altnordischen „stafr“ abgeleitet ist, was Pfosten oder Säule bedeutet. Diese Säulen tragen als Ständer die Last des Gebäudes und sind als entscheidende architektonische Elemente für die Namensgebung verantwortlich. In Norwegen gibt es noch 28 mittelalterliche Stabkirchen, in Schweden und Polen jeweils noch eine. Drei davon – in Norwegen die aus Gol (Abb. 1) und Fantoft (Abb. 2) – wurden umgesetzt und aus zum Teil noch erhaltenen Elementen wieder aufgebaut. Die übrigen sind dort erhalten, wo sie errichtet wurden. Alle Stabkirchen wurden im Lauf der Jahrhunderte vielfach renoviert und umgebaut: Anbauten und Fenster wurden hinzugefügt und wieder entfernt, Innenausstattung (Abb. 3) und Ausmalungen (Abb. 4) dem Geschmack und den theologischen Vorstellungen ihrer Zeit angepasst. Und dennoch sind die Stabkirchen eindrückliche Zeugnisse ihrer Entstehungszeit im 12. und 13. Jahrhundert geblieben.
Norwegen wurde zunächst von Dänemark aus, dann aber wesentlich auch von England aus christianisiert. Vor allem in der Gegend um Bergen herrschten rege überseeische Beziehungen zu England. Gefördert wurde die – zunächst von Misserfolgen geprägte – Mission seit 935 von König Hakon dem Guten, der bei König Athelstan in England christlich erzogen worden war. England förderte auch die Wirksamkeit des Wikingerhäuptlings Olav Tryggvasson (990er-1000), der als Olav I. das Christentum als politisches Machtmittel nutzte und die Bevölkerung in seinem westnorwegischen Reich mit Zwang dazu brachte, den neuen Glauben anzunehmen. Er ließ erste Kirchen bauen und es gibt Hinweise darauf, dass es sich dabei bereits um Stab- bzw. Pfostenkirchen handelte.
Es war dann der ebenfalls aus England gekommene Wikingerhäuptling und König Olav Haraldsson (Olav II. mit dem Beinamen „der Dicke“), der von 1015 bis 1028 die Ausbreitung seiner Königsmacht betrieb und mit Hilfe aus England mitgebrachter Geistlicher die weitgehend vollständige Christianisierung des Landes erreichte. Auch er ging dabei nicht immer friedlich vor: Die Bauern in Valdres zwang er mit Brandschatzungen, Plünderungen und Geiselnahmen zur Annahme der Taufe. Nach Olavs Tod 1030 in der Schlacht bei Stiklestad setzte schnell eine von Hof und Kirche geförderte Legendenbildung ein. Dem Toten wurde nach angelsächsischem Vorbild der Ruf eines „Königsheiligen“ verschafft, dessen Verehrung sich über Norwegen hinaus auf ganz Skandinavien erstreckte.
Bereits aus der Zeit unmittelbar nach seinem Tod sind etwa 400 Kirchen in Skandinavien bekannt, die dem heiligen Olav geweiht waren. Bald setzte auch ein ausgeprägtes Pilgerwesen ein (Abb. 5). Steinkirchen gab es nur in den frühen Bischofssitzen Trondheim, Bergen und Oslo. Alle anderen Kirchen waren Stabkirchen aus Holz, deren Weihe nach dem ältesten Kirchengesetz Norwegens so lange gültig war, wie die Eckpfosten stehenblieben. Ein Viertel des Kirchenzehnten war für den Kirchenbau bestimmt, so dass die Entwicklung des norwegischen Holzkirchenbaus von Anfang an auf einer soliden materiellen Basis stand. Bis 1103 war die norwegische Kirche dem Erzbischof von Hamburg-Bremen unterstellt. 1104 wurde Lund in Schweden als kirchliches Zentrum des Nordens gegründet; 1151 wurde Nidaros/Trondheim Erzbistum für Norwegen.
Der Kirchenbau kam zusammen mit dem Christentum aus dem Süden und von den Britischen Inseln nach Norwegen. St. Andrew in Greensted ist heute die älteste erhaltene Holzkirche der Welt und gilt als Vorgängerkirche der norwegischen Stabkirchen (Abb. 6). Die ersten Holzkirchen waren Pfostenkirchen, deren Eckpfosten direkt in die Erde gesetzt wurden. Diesen Pfostenkirchen war keine lange Lebensdauer beschert, da die Pfosten und die dazwischen gebauten Palisadenwände der Verrottung von unten ausgesetzt waren.1956/57 wurde bei archäologischen Grabungen in Urnes festgestellt, dass die dortige Stabkirche zwei solche direkt in die Erde gesetzte Pfostenkirchen als Vorgänger hatte. Die dritte und direkte Vorgängerkirche der jetzt stehenden war dann bereits ohne erdgebundene Pfosten auf Holzschwellen gebaut, die von untergelegten Steinen gestützt und gegen die Bodenfeuchtigkeit isoliert wurden. Diese Schwellen wurden bald in ganzer Wandlänge ausgeführt, so dass sie den unteren Teil der für die klassischen Stabkirchen typischen Rahmenbauweise – genannt Ständerbau – bildeten (Abb. 7). Die Wandplanken dazwischen waren mit Nut und Feder verbunden.
Der Wechsel vom Pfosten- zum Ständerbau wurde in den Jahrzehnten um 1100 vollzogen. Aus dem späten 11. Jh. sind eine ganze Reihe von Bauteilen erhalten, da sie in heute noch stehenden Stabkirchen weiterverwendet wurden. Berühmtestes Beispiel dafür sind das Portal und die verzierten Bauteile an der Nordwand der Stabkirche von Urnes (Abb. 8). Sie gehören in die letzte Phase der germanisch-nordeuropäischen Tierornamentik, die auch als Urnes-Stil bezeichnet wird. Aus diesen Überbleibseln kann geschlossen werden, dass die Stabkirchen dieser ersten Generation sehr viel vollständiger und aufwändiger verziert waren (und höchstwahrscheinlich sogar mehrfarbig bemalt waren) als die klassischen, heute noch vorhandenen aus dem 12. und 13. Jahrhundert.
Das in Urnes erhaltene Portal (Abb. 9) zeichnet sich nicht nur durch seine flächendeckende Urnes-Tierornamentik aus, sondern sogar die Türfläche selbst war reich geschnitzt, was später gar nicht mehr vorkam. Der „Horror Vacui“ (lat. „die Angst vor dem Leeren“) in der Kunst von Kelten, Angelsachsen und Wikingern (vgl. Abb. 10) ist hier noch wirksam als der Wunsch, alle leeren Flächen mit Darstellungen oder Ornamenten zu füllen. Auch die abgebildeten Tiere unterscheiden sich: Der Urnes-Stil ist von untereinander verflochtenen, flügellosen Drachen, schlangen- und hirschähnlichen Tieren beherrscht, während an den späteren Portalen aus dem 12. und 13. Jahrhundert der von der Romanik herkommende Löwenkopf und geflügelte Drachen dominant sind. Der Unterschied zwischen den Stabkirchen vor und denen nach 1100 besteht jedoch vor allem darin, dass der Stil der frühen Kirchen sich nicht auf Architekturelemente stützt, sondern auf die fächendeckende Verzierung eines architektonisch einfachen Baukörpers, der nur aus Saal und Chor besteht. Nach 1100 rückt dann zunehmend die Verzierung in den Hintergrund und bleibt im Wesentlichen auf das Portal beschränkt. Dafür gewinnen architektonische Elemente wie Dachreiter, kleine Rundtürme auf dem Chor, Laubengänge, Apsiden und Wimperge an Bedeutung (Abb. 11).
Nach 1100 hat sich der Ständer-Schwellenbau durchgesetzt: Nahezu alle Holzkirchen in Norwegen und Schweden sind in dieser konsequent vertikalen Bauweise errichtet, während bei Profanbauten aus derselben Zeit der horizontale Blockbau vorherrscht (Abb. 12). Erst in der Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert kam der Blockbau auch im norwegischen Kirchenbau in Gebrauch und verdrängte bald darauf den Stabbau vollständig. Der erste Teil des 12. Jahrhunderts war im norwegischen Stabkirchenbau vom Drang in die Höhe geprägt: Die tragenden Säulen der zweiten Generation von Stabkirchen wurden immer höher, wofür der heutige Innenraum von Urnes Zeugnis ablegt (Abb. 13). Die stützenden Balkenzangen, welche die Hochsäulen in halber Höhe miteinander verbinden, waren sowohl in Urnes als auch in Kaupanger (Abb. 14) ursprünglich nicht vorhanden, sondern wurden erst später hinzugefügt. Bei den klassischen Stabkirchen aus dem späteren 12. und 13. Jahrhndert gehörten die Balkenzangen und die Versteifungen durch Andreaskreuze, die die Baumöglichkeiten in die Höhe erweiterten, von Anfang an dazu (Abb. 15).
Der Übergang von den urnes-zeitlichen zu den klassischen Stabkirchen zeichnet sich dadurch aus, dass Schnitzereien an den wichtigen Hölzern noch vorhanden sind, aber wesentlich zurückhaltender und architekturbezogener ausfallen. Das zeigt sich etwa an der Gliederung von Wänden durch Lisenen und vor allem an den Portalen mit ihren Halbsäulen, Kapitellen (Abb. 16) und Archivolten und anderen aus der Steinarchitektur stammenden Elementen. Auch die Verzierungen an den Portalen ändern sich: Rankenwerk, geflügelte Drachen und Löwenköpfe werden stilbildend.
Die dritte Generation der Stabkirchen kommt nur in Norwegen vor und ist Norwegens bedeutendster Beitrag zur Weltarchitektur. Das Prinzip des Rahmenbaus ist vervollkommnet (Abb. 17): Die Dachlast ruht nicht mehr auf den Wandplanken, sondern im wesentlichen auf der Rahmenkonstruktion. In der Konsequenz daraus sind die Wandplanken in ihrem Durchschnitt wesentlich schwächer ausgebildet als die der Stabkirchen der ersten Generationen. Anstelle von Halbstämmen, die wie noch in Greensted mit losen Federn verbunden wurden (Abb. 18), treten flache Planken, die an einer Seite eine Nut und an der anderen eine Feder haben und direkt miteinander verbunden werden. Die entscheidenden architektonischen Elemente sind die „Stäbe“ oder Ständer als Eckständer und an Längswänden auch als Zwischenständer, die als Säulen gestaltet sind und unten stark verdickte Basen haben. Alle den Bau als Wände begrenzenden Flächen sind von einem vertikalen Rahmen aus unterschiedlichen Hölzern umgeben, unten von den Schwellbalken, an den Seiten von den Ecksäulen und oben von den Rähmbohlen. Die untere Basis bildet ein horizontaler Rahmen aus Schwellen, die mit den Ecksäulen verbunden sind, die horizontale Rahmen-Entsprechung oben heißt Rähmen. Der Chor ist nicht in den Grundschwellenrahmen des Schiffes einbezogen. Der freistehende Dachstuhl erinnert an ein umgekehrtes Boot, bei dem die mit Knaggen abgesteiften Dachsparren den Spanten im Boot entsprechen (Abb. 19). Für die Knaggen wurde oft das natürlich gerundete Holz aus dem Wurzelansatz von Baumstämmen verwendet.
Die für den Rahmenbau erforderlichen dreidimensionalen Holzverbindungen stellen erhebliche Anforderungen an die Fähigkeiten der Zimmerleute. Diese zogen mit ihren speziellen Fertigkeiten und Erfahrungen von einem Kirchenbau zum nächsten. Dabei bildeten sich leicht unterschiedlich arbeitende Schulen heraus; die oben dargelegten Prinzipien des klassischen Stabkirchenbaus galten jedoch in ganz Norwegen. Die gesamte Raumwirkung der Säulenstabkirchen beruht auf ausschließlich konstruktiv begründeten Bauteilen; die ornamentale Ausgestaltung tritt dahinter deutlich zurück.
Die klassischen Stabkirchen lassen sich zwei Haupttypen zuordnen: denen mit erhöhtem Zentralraum, der von Hochsäulen getragen wird (auch Borgund-Typ genannt), und denen ohne ein solches Hochsäulenviereck in der Mitte. Letztere entsprechen einfachen Saalkirchen mit Rechteckchor; der Typ kam unter anderem aus dem angelsächsischen England nach Norwegen. Die Weiterentwicklung zum erhöhten Zentralraum der Säulenstabkirchen vollzog sich dann in Norwegen und wurde später nach Island exportiert. Die klassischen Stabkirchen ohne erhöhten Zentralraum (Abb. 20) lassen sich wiederum unterscheiden in die ohne Anbauten und die mit zusätzlichen Architekturelementen wie Apsiden, Dachreitern, Laubengängen oder Eingangsvorbauten. Mittelmastkirchen sind gekennzeichnet durch eine im Zentrum des Schiffs stehende Säule, die über das Dach hinausragt, um einen Dachreiter zu tragen, der stabil genug ist, um eine Glocke aufzunehmen. Mittelmasten als Stabilisierung für Dachreiter kommen auch in Steinkirchen vor. Ein weiterer Untertyp der Kirchen ohne erhöhten Zentralraum ist der Møre-Typ, der sich durch Zwischensäulen in den Wänden und eine äußere Abstützung auszeichnet.
Die eindrücklichste Stabkirche der dritten Generation mit erhöhtem Zentralraum ist die seit dem Mittelalter weitgehend unverändert erhaltene Stabkirche in Borgund mit ihren sechs übereinander aufgetürmten Dächern (Abb. 21). Sowohl das Schiff als auch der Chor werden von einem erhöhten Mittelraum überragt, der von freistehenden Hochsäulen getragen wird. Rund 40 solcher Säulenstabkirchen sind bekannt geworden, das sind etwa 12 % der 355 in Norwegen bekannten Holzkirchen. Zum Grund für die Entstehung des erhöhten Zentralraums gibt es unterschiedliche Theorien. Eine sieht Parallelen zur nach oben strebenden Gotik im 12. Jahrhundert – wogegen allerdings frühere Vorformen der Hochsäulen wie in Urnes sprechen –, eine andere sieht Vorbilder in heidnischen Sakralbauten, wofür es jedoch keine archäologischen Anhaltspunkte gibt. Nach der „Basilika-Theorie“ sollen die Säulenstabkirchen eine hölzerne Ableitung romanischer Steinbasiliken mit Haupt- und Seitenschiffen sein. Dafür sprechen die vom romanischen Steinbau übernommenen Details wie Rundbogenarkaden oder Würfelkapitelle. Dagegen spricht, dass die Basilika eine länglich-achsiale Struktur aufweist, während die Säulenstabkirche mit fast quadratischem Grundriss eher einem Zentralbau mit komplettem Umgang um den Mittelraum entspricht (im Gegensatz zu den Seitenschiffen einer Basilika, Abb. 22). Wieder eine andere Theorie sieht die Ursprünge in profanen englischen Pfostenbauten, die zum Teil bereits ein Innenpfostenviereck aufwiesen. So ist auf dem Wandteppich von Bayeux aus dem Ende des 11. Jahrhunderts ein solcher Bau mit erhöhtem Mittelraum und Umgang abgebildet. Die Gustav-Adolf-Stabkirche in Goslar-Hahnenklee, die 1907/1908 nach dem Vorbild der Stabkirche in Borgund errichtet wurde, ist ebenfalls eine mit erhöhtem Zentralraum (Abb. 23).
Eine Stabkirche mit erhöhtem Zentralraum ist aus bis zu 2000 verschiedenen Teilen zusammengesetzt, die zumeist passgenau vorgefertigt sein mussten, bevor die Kirche aufgerichtet wurde. Alle Bauteile wurden ohne Nägel zusammengefügt. Vor allem für die Hochsäulen, aber auch für das übrige Bauholz sind in der Regel besonders sorgfältig ausgewählte, gerade gewachsene Kiefernstämme (Pinus sylvestris) verwendet worden, die wahrscheinlich vor dem Fällen einige Jahre vorbehandelt wurden. Solange sie noch auf der Wurzel standen, hat man die Krone gekappt und die Stämme entrindet. Damit setzte eine verstärkte Harzbildung zur Konservierung ein und außerdem trocknete das Holz sehr langsam, wodurch Trockenrisse vermindert werden konnten. Auch Fichte und seltener Eiche kamen zum Einsatz. Das Alter der Kirchen lässt sich mit Hilfe der dendrochronologischen Methode bestimmen, die im Rahmen des jüngst beendeten Stave Church Preservation Programme an vielen erhaltenen Stabkirchen angewendet werden konnte. Mit Hilfe dieser Methode werden Hölzer anhand der an ihnen erkennbaren Jahresringe datiert, die unterschiedlich breit ausfallen und sich einer bestimmten bekannten Wachstumszeit zuordnen lassen.
Heute sind die Dächer fast aller Stabkirchen mit geteerten Schindeln gedeckt. Das mag nicht von Anfang an so gewesen sein: In Urnes ist zum Teil die ursprüngliche Dachhaut noch erhalten, die aus horizontal liegenden Brettern besteht. Jedoch sind auch Schindeln erhalten, die bereits im Mittelalter verwendet wurden (Abb. 24).
Eine weitere Besonderheit der klassischen Stabkirchen sind ihre Portale (Abb. 25–31 und 33) mit flächendeckender Schnitzerei an den breiten Seitenplanken und dem hohen Sturz über dem Türdurchgang. Das sogenannte Sogn-Valdres-Design (Abb. 26–29) ist von 46 Portalen her bekannt. Es besteht aus einer komplizierten Verflechtung von geflügelten Drachen und pflanzlichem Rankenwerk: Über der Tür stößt ein Drache nach unten, der von beiden Seiten von weiteren Drachen mit ausgebreiteten Flügeln angegriffen wird, deren Schwänze auf den Seitenplanken weit hinabreichen. Geschlungene Ranken, die aus dem Maul eines Löwenkopfs kommen, wachsen von unten bis zum Türsturz hinauf (Abb. 29). Dazwischen sind kleinere Drachen und Schlangen hineinverflochten.
Eine Sonderform sind die Medaillonportale, in denen Szenen aus Heldensagen abgebildet sind. Musterbeispiel ist das Portal von Hylestad (Abb. 30 und 31) im kulturhistorischen Museum der Universität Oslo mit Darstellungen aus der Sigurdssage, die inhaltlich dem Nibelungenlied entspricht: Sigurd ist Siegfried, der Drachentöter. Bei späteren Ausprägungen der Medaillonportale sind die heidnischen Helden durch christliche Motive ersetzt. Die Löwen und Drachen, die auch unter den Füßen zeitgenössischer Marienstatuen (nicht nur) aus Stabkirchen auftauchen (Abb. 32), werden unter anderem als die Mächte des Bösen interpretiert, von denen es in Psalm 91,13 heißt: „Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten.“ Ihre Abbildung an den Außenportalen könnte ähnliche apotropäische (das Unheil abwendende) Funktion haben wie die der Gargoylen an gotischen Steinkirchen. Für das gesamte frühe Mittelalter war die Macht des Bösen eine, die der Macht Gottes zwar nicht vollständig ebenbürtig, aber überwältigend groß war. Das Portal einer geweihten Kirche verkörpert den schmalen Grat zwischen dem Gottes- und dem Teufelsreich.
Nach dem Ausbruch der Pest, die Norwegen ab 1349 besonders verheerend traf, wurden kaum mehr Kirchen gebaut, weder aus Holz noch aus Stein. Die Bevölkerung wurde durch den Schwarzen Tod um zwei Drittel dezimiert und so verfielen auch viele bestehende Stabkirchen, die nicht mehr genutzt wurden. Von den wohl über 1000 mittelalterlichen Stabkirchen waren 1650 noch 270 übrig, als die Einwohnerzahl Norwegens nach 300 Jahren wieder den Stand vor der Pestepidemie erreichte. Nach der Reformation 1537 wurden keine neuen Stabkirchen mehr gebaut; die von Gemeinden genutzten wurden den neuen gottesdienstlichen Bedürfnissen angepasst: Heiligenfiguren wurden entfernt, Kanzeln, Gestühl und Emporen eingebaut (Abb. 34). Allgemein galten die Stabkirchen als eher katholische Bauwerke, darum wurde ihre Anzahl bis 1850 auf 60 reduziert. Eine weitere Dezimierung brachte ein Kirchengesetz 1851, das besagte, dass eine Kirche groß genug sein muss, damit 30 % der Gemeindeglieder darin Platz finden. Kaum eine Stabkirche erfüllte diese Gesetzesanforderung, darum wurden viele durch größere Kirchen ersetzt. Die letzte Stabkirche wurde 1880 abgerissen, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte die Wertschätzung der verbliebenen Stabkirchen ein. 1889 wurde auf der Weltausstellung in Paris ein Modell der Stabkirche in Borgund präsentiert, das vermutlich den Architekten der Stabkirche in Hahnenklee, Karl Mohrmann, zu seinem Nachbau inspirierte (Abb. 35). Ebenfalls von der Kirche in Borgund inspiriert ist die 2006 errichtete Norwegische Stabkirche im Europapark Rust, die als Simultankirche genutzt wird (Abb. 36). In Norwegen spielte der dortige Verein für Denkmalspflege bei der organisierten Rettung der Stabkirchen eine wichtige Rolle und kaufte mehrere vom Abriss bedrohte Kirchen. Heute sind in Norwegen noch 28 Stabkirchen vorhanden und weitere 50 gut dokumentiert. 2002 begann das Norwegische Zentralamt für Denkmalpflege mit einem umfangreichen Stave Church Preservation Programme, das bis 2015 dazu führte, dass alle 28 norwegischen Stabkirchen samt Interieur in einem guten Zustand sind und als kulturelles Erbe auch in Zukunft erhalten bleiben.
TuK Bassler, Visit-a-Church.info
Zuletzt geändert: 13.06.2021
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