Jesus war Jude, Sohn einer jüdischen Mutter: Maria, Mirjam von Nazareth. Die Jüngerinnen und Jünger, die Jesus zu Lebzeiten begleitet haben, waren ebenso Angehörige des von Gott bleibend erwählten Volkes Israel wie der Heidenapostel Paulus. Kein Satz des Neuen Testaments kann verstanden werden, ohne die Bibel Jesu und der ersten Christen, die wir heute Altes Testament nennen, zu kennen und zu verstehen. Was das Christentum mit dem Judentum verbunden hat und immer verbinden wird, hat Paulus in seinem Brief an die junge, christliche Gemeinde in Rom mit dem Gleichnis vom Ölbaum beschrieben; der Ölbaum ist im Alten Testament ein Bild für das Volk Israel:
Römer 11,17f: Wenn nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden, du aber, der du ein wilder Ölzweig bist, in den Ölbaum eingepfropft wurdest und Anteil bekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.
Auch das Hauptsymbol des Judentums, die Menora - der siebenarmige Leuchter, stellt einen stilisierten Baum dar (Abb. 1). Menora (Plural: Menorot) ist hebräisch für Leuchter oder Lampe; gemeint ist mit dem Begriff jedoch speziell der siebenarmige Leuchter, der im Jerusalemer Tempel stand. Baum, Licht und Leben sind im Hebräischen – und nicht nur im Hebräischen, sondern auch in Ägypten und im vorderasiatischen Raum – assoziativ eng verbunden, wie die Ausdrücke „Baum des Lebens“ und „Licht des Lebens“ zeigen. Dieses Motiv vom Lebensbaum findet sich auch im baumförmigen Leuchter mit seinen sechs Armen oder Ästen, die vom Stamm abzweigen, und den verdickten Knäufen und Blütenkelchen. Die Menora wird im 2. und 4. Buch Mose als Teil der Ausstattung der Stiftshütte ausführlich beschrieben und im zweiten Jerusalemer Tempel aufgestellt, der nach dem Vorbild der Stiftshütte gebaut war. Zusammen mit dem Tisch für die 12 Schaubrote stand der siebenarmige Leuchter im Raum vor dem Allerheiligsten.
Der Leuchter des zweiten Tempels wurde 169 v. Chr. von Antiochus IV. geraubt (1Makk 1,21). Judas Makkabäus hat den Leuchter wiederhergestellt (1Makk 4,48f), auf den sich dann alle archäologischen Darstellungen und Beschreibungen beziehen. Seit dem 1. Jh. n. Chr. wird das Fest der Wiedereinweihung des Tempels nach der Schändung durch die Schweineopfer des Antiochus IV. als Chanukka bezeichnet. Acht Tage lang wird jeden Tag ein Licht mehr angezündet. Vielleicht soll der Lichterritus an das Wiederanzünden der Menora erinnern, vielleicht auch an das Wiederentzünden des Altarfeuers: ein direkter Zusammenhang zwischen dem achttägigen Lichterfest und dem Leuchter im Tempel ist jedoch allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Darum wird im Judentum auch strikt unterschieden zwischen der Menora und dem acht- oder neunarmigen Chanukka-Leuchter, der im Gegensatz zur Menora bis zum heutigen Tag ein jüdischer Kultgegenstand ist. Dazu Bar Rav Nathan:
Auch wenn die Menora im Tempel zu Jerusalem ein Kultgegenstand war, hatte sie mit der Zerstörung des Tempels ihre Bedeutung verloren. Sie ist im Übrigen auch verschollen. Es gibt keine religiöse Pflicht, Kerzen in einer Nachbildung der Menora zu zünden, noch dient solch eine Abbildung irgendeiner religiösen Zeremonie. Sie kann von Jedermann fabriziert und überall aufgestellt und zur Schaffung von Licht mit Kerzen (oder Öl) angezündet werden.
Aus der Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. stammen Graffiti und Mosaiken mit Abbildungen von Leuchtern, die eine sich unten verbreiternde Basis zeigen, je drei gekrümmte Äste oder Arme, die auf der gleichen Höhe enden, und Verdickungen am Ende dieser Äste, die wohl sieben kleine Ölgefäße andeuten (Abb. 2). Die detaillierteste Darstellung der Menora stammt vom Titusbogen in Rom (gebaut 81 n. Chr.), der den Triumphzug von Vespasian und Titus 71 n. Chr. zeigt, in dem die bedeutendsten Beutestücke aus dem Tempel mitgetragen wurden (Abb. 3). Deren Verbleib ist unbekannt. Der auf dem Titusbogen abgebildete Leuchter war es, der nach der Zerstörung des Tempels immer häufiger dargestellt wurde als Symbol des jüdischen Tempels und der damit verknüpften messianischen Hoffnung. Für den christlichen Glaube ist diese Messiashoffnung in Jesus Christus erfüllt.
„Der Glaube Jesu einigt uns, der Glaube an Jesus trennt uns“ hat der jüdische Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin das Verhältnis von Judentum und Christentum auf den Punkt gebracht. Der christliche Glaube an Jesus als den Messias Israels und Sohn Gottes sowie die dementsprechende Auslegung des Alten Testaments trennen Kirche und Synagoge voneinander. Und eben weil sie sich von den Ursprüngen her so nahestehen, ist diese Trennung verbunden mit einer langen, schmerzlichen Geschichte – anfänglich geprägt von gegenseitigem Unverständnis, später vor allem durch christlichen Antijudaismus.
Ein entscheidendes Datum in dieser Geschichte ist die sogenannte konstantinische Wende im 4. Jahrhundert, die das Christentum von einer geduldeten Religionsgemeinschaft zur Reichskirche und Staatsreligion erhob. Das Kreuz wurde zum allgegenwärtigen Zeichen des Sieges. Die Menora als bekanntestes aller Tempelgeräte wird zu dieser Zeit zu einem identitätsstiftenden Zeichen des Judentums, sowohl was die Glaubensinhalte angeht als auch im nationalen Sinn. 1897 schlug Theodor Herzl die Menora als Zeichen der nationalen Wiedergeburt vor. Seit 1948 stellt das Staatswappen Israels die Menora auf dem Titusbogen zwischen zwei Ölbaumzweigen dar (Abb. 4). 1956 schenkte das britische Parlament als ältestes dem israelischen Parlament als damals jüngstem eine Menora des jüdischen Bildhauers Benno Elkan aus Dortmund, die 1966 ihren heutigen Platz vor der Knesset in Jerusalem fand (Abb. 5). Elkan schuf mehrere solcher Leuchter, auch für Kirchen, die u. a. in der Westminster Abbey in London stehen.
Mit der konstantinischen Wende und dem Triumph des Kreuzes war ein Zuwachs an Macht und Reichtum verbunden, der die Kirche verändert hat. Der Reichtum kam unter anderem dem Kirchenbau zugute; der Machtzuwachs fand leider oft genug Ausdruck im Machtmissbrauch gegenüber Juden und Jüdinnen, die immer wieder im Laufe der Geschichte von christlichen Herrschern grausam verfolgt und vertrieben wurden. Zeiten der Duldung und der Toleranz wechselten sich ab mit finstersten Exzessen des Judenhasses, der seinen Höhepunkt im Holocaust erreichte, der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten.
Antijudaismus gab es im Christentum von Anfang an. Es handelt sich dabei um eine spezielle Form des Antisemitismus, nämlich die Judenfeindschaft aus religiösen Motiven. Bereits im Neuen Testament entlädt sich die Konkurrenzsituation zwischen Kreuz und Menora in herabsetzenden und feindlichen Pauschalurteilen, die unter anderem auch Jesus in den Mund gelegt werden. Im Mittelalter war das Machtgefälle längst verfestigt: Juden und Jüdinnen waren gezwungen, in Judengassen und Judenvierteln zu leben; sie wurden durch Kleiderordnungen oder gelbe Flecken auf der Kleidung stigmatisiert. Da ihnen viele Handwerksberufe verwehrt wurden, der Geldverleih aber offenstand, entstand eine auf Neid gegründete Feindschaft: Juden wurden als Wucherer und Spekulanten gebrandmarkt. Wie tief diese antisemitische Haltung in der Geistes- und Kulturgeschichte Europas verwurzelt ist, analysiert der französische Philosoph Jean-Luc Nancy:
Der Antisemitismus ist „geschichtlich“ und „geistig“, weil er gleichursprünglich mit einer Geschichte ist, die ihren Sinn und Verstand verlor, weil die Autonomie, die ihre Kraft ausmachte, sie in Zweifel und Verwirrung stürzte. Der Jude sollte als Sündenbock für alles dienen, was diese Geschichte längst als ihre Ausweglosigkeit verspürt oder vorausgeahnt hat. Er wird mit dem ganzen Selbsthass beladen, den Europa oder die moderne westliche Welt umtreibt: dem Hass auf das Geld, auf die Macht, die Demokratie, die Technik – all das natürlich begleitet von einer entsprechenden und zwangsläufig unglücklichen Liebe. Die christlichen Kirchen haben diese Ambivalenz oftmals verkörpert.
In und an Kirchen finden sich zahllose Beispiele für alle Formen, die das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum über die Jahrhunderte hinweg angenommen hat. Oft, aber nicht immer sind sie Ausdruck dafür, dass die Kirche sich als Neues und Wahres Israel verstanden und die Synagoge ihres Erstgeburtsrechts beraubt und enteignet hat. Bezeichnend dafür ist die allegorische Darstellung von Kirche und Synagoge, zum Beispiel am Straßburger Münster aus dem 13. Jahrhundert: Die triumphierende Ecclesia als junge Frau mit Mantel, Kreuz und Krone schaut auf die ebenso anmutige Schwestergestalt Synagoge mit den Gesetzestafeln, die sich besiegt, mit verbundenen Augen und zerbrochener Fahne abwendet (Abb. 6).
Ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert und typisch für die judenfeindlichen Strömungen in der Volksfrömmigkeit ist die Legende vom Knaben Werner, der angeblich von Juden getötet wurde. Heinrich Heine hat die danach benannte Wernerkapelle (Abb. 7) zum Anknüpfungspunkt seines Erzählfragments „Rabbi von Bacharach“ gemacht:
Die große Judenverfolgung begann mit den Kreuzzügen und wütete am grimmigsten um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, am Ende der großen Pest, die, wie jedes andre öffentliche Unglück, durch die Juden entstanden sein sollte, indem man behauptete, sie hätten den Zorn Gottes herabgeflucht und mit Hülfe der Aussätzigen die Brunnen vergiftet. Der gereizte Pöbel, besonders die Horden der Flagellanten, halbnackte Männer und Weiber, die, zur Buße sich selbst geißelnd und ein tolles Marienlied singend, die Rheingegend und das übrige Süddeutschland durchzogen, ermordeten damals viele tausend Juden oder marterten sie oder tauften sie gewaltsam.
Eine andere Beschuldigung, die ihnen schon in früherer Zeit, das ganze Mittelalter hindurch bis Anfang des vorigen Jahrhunderts, viel Blut und Angst kostete, das war das läppische, in Chroniken und Legenden bis zum Ekel oft wiederholte Märchen, dass die Juden geweihte Hostien stählen, die sie mit Messern durchstächen, bis das Blut herausfließe, und dass sie an ihrem Paschafeste Christenkinder schlachteten, um das Blut derselben bei ihrem nächtlichen Gottesdienste zu gebrauchen. Die Juden, hinlänglich verhasst wegen ihres Glaubens, ihres Reichtums und ihrer Schuldbücher, waren an jenem Festtage ganz in den Händen ihrer Feinde, die ihr Verderben nur gar zu leicht bewirken konnten, wenn sie das Gerücht eines solchen Kindermords verbreiteten, vielleicht gar einen blutigen Kinderleichnam in das verfemte Haus eines Juden heimlich hineinschwärzten und dort nächtlich die betende Judenfamilie überfielen, wo alsdann gemordet, geplündert und getauft wurde und große Wunder geschahen durch das vorgefundene tote Kind, welches die Kirche am Ende gar kanonisierte.
Sankt Werner ist ein solcher Heiliger, und ihm zu Ehren ward zu Oberwesel jene prächtige Abtei gestiftet, die jetzt am Rhein eine der schönsten Ruinen bildet und mit der gotischen Herrlichkeit ihrer langen, spitzbögigen Fenster, stolz emporschießender Pfeiler und Steinschnitzeleien uns so sehr entzückt, wenn wir an einem heitergrünen Sommertage vorbeifahren und ihren Ursprung nicht kennen. Zu Ehren dieses Heiligen wurden am Rhein noch drei andre große Kirchen errichtet und unzählige Juden getötet oder misshandelt. Dies geschah im Jahre 1287, und auch zu Bacherach, wo eine von diesen Sankt-Werners-Kirchen gebaut wurde, erging damals über die Juden viel Drangsal und Elend.
Auch die Église des Billettes ("das Haus, in dem Gott gekocht wurde") in Paris erinnert heute noch mit ihrem Namen an die im Christentum Europas weitverbreiteten antijudaistischen Legenden von der angeblichen Hostienschändung (Abb. 8). Ein weiteres Beispiel für den Antisemitismus im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ist die Schmähplastik, genannt „Judensau“, an der Schlosskirche in Wittenberg. Sie zeigt den Gott der Juden als Schwein, dem ein Rabbiner in den Anus schaut (Abb. 9). Die Inschrift „Schem Hamphoras“ (eine Bezeichnung Gottes im Judentum) steht wohl seit 1570 darüber und belegt den Judenhass zur Zeit der Reformation. Hier predigte der Reformator Martin Luther, der 1543 die Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ verfasste. Auch in der Schlosskirche wetterte er gegen sie als Feinde des Evangeliums und rief dazu auf, ihre Synagogen und Häuser anzuzünden. Wenn das nicht helfe, riet Luther, solle man die Juden „wie die tollen Hunde ausjagen“. Besonders im 19. und 20. Jahrhundert wurde Luther darum als Kronzeuge für theologischen und kirchlichen Antijudaismus sowie politischen Antisemitismus in Anspruch genommen.
Auch mit der Aufstellung von siebenarmigen Leuchtern in Kirchengebäuden trifft die Kirche eine Aussage gegenüber dem Judentum; auch mit einer Menora in der Kirche wird das Verhältnis zum Judentum näher bestimmt. Wie kam es, dass siebenarmige Leuchter in Kirchen aufgestellt wurden und was für eine Bedeutung kann das heute haben?
Im Neuen Testament steht Jesus Christus als Messias Israels und Licht der Welt im Mittelpunkt; direkte Bezüge zwischen ihm und dem im Alten Testament beschriebenen siebenarmigen Leuchter finden sich jedoch nicht. In der Offenbarung ist von sieben Leuchtern, jedoch nicht von einer Menora die Rede, auch wenn die Verse gelegentlich so interpretiert werden (Abb. 10). Eine christliche Rezeption der Menora als bildliches Symbol und als Teil der Kirchenausstattung beginnt erst in karolingischer Zeit. Aus spätantiken Kirchen sind keine Abbildungen von siebenarmigen Leuchtern bekannt, wohl aber zahllose Abbildungen von anderen vielarmigen Leuchtern, Leuchterkronen und mehrstufigen Lichterbäumen, die die Wertschätzung des Lichts als Symbol in der frühchristlichen Kirchenausstattung bezeugen.
Die christliche Aneignung des siebenarmigen Leuchters setzt zunächst in der Literatur ein, und zwar in der allegorischen Schriftauslegung der Kirchenväter. Klemens von Alexandrien (150–215 n. Chr.) war einer der ersten, die den siebenarmigen Leuchter als Sinnbild Jesu Christi gedeutet und die Siebenzahl auf die sieben Gaben des Heiligen Geistes in Jesaja 11,1f bezogen haben: Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.
Die Gleichsetzung der sieben Lampen des Leuchters mit diesen sieben Gaben des Heiligen Geistes, die über der Wurzel Jesse ruhen, wird zu einem bedeutenden Verbindungsstück zwischen Altem und Neuem Bund (Abb. 11): Die Vision von der Jungfrau aus dem Stamme Davids, die den Messias gebären wird, ist im Neuen Testament erfüllt (Abb. 12). Dabei wird an die alte Verbindung des Leuchters (mit seinen pflanzlichen Attributen) zu den Bäumen des Lebens (Abb. 13) und der Erkenntnis angeknüpft (Abb.14). Die Menora als markantestes Zeichen des Tempels und des Judentums wird als Zeichen für die christliche Kirche, den neuen Tempel gedeutet. Dieser theologischen Aneignung, die in Christus die Erfüllung der Messiasprophezeiungen im Alten Testament sieht, folgt die Aneignung in Kunst- und Architekturgeschichte.
Seit der Zeit Karls des Großen werden siebenarmige Leuchter in europäischen Kirchen aufgestellt. Die Kirche verstand sich als Neues und Wahres Israel – Aneignung und Enteignung waren kaum zu trennen. „Oh Salomo, ich habe dich übertroffen!“ soll Kaiser Justinian ausgerufen haben, als er die Hagia Sophia am 27. Dezember 537 einweihte. Er verglich seine Kirche samt ihrer überirdisch erscheinenden Kuppel mit dem von König Salomo erbauten Tempel in Jerusalem. Fast 1000 Jahre blieb die Hagia Sophia die prächtigste Kirche der Christenheit, das Herz von Byzanz (Abb. 15). In den folgenden Jahrhunderten werden Kathedralen und Kirchen auch im Westen bewusst als Tempel gestaltet. Die siebenarmigen Leuchter stilisieren zusammen mit anderen Gegenständen der Tempelausstattung die Kirchengebäude sowohl als Neuen Tempel als auch als himmlisches Jerusalem. Siebenarmige Leuchter als einzelne Bronzewerke gehören bald zu den wertvollsten Kunstgütern mittelalterlicher Kirchen und Kathedralen (Abb. 16 und 17). Zu den bedeutendsten Beispielen zählen der ottonische Leuchter im Dom von Essen, der romanische Leuchter im Braunschweiger Dom und der ca. 6 Meter hohe, gotische Trivulzio-Leuchter im Dom von Mailand.
Mit dem Untergang der mittelalterlichen Symbolwelten scheint der siebenarmige Leuchter dann aus den abendländischen Kirchen mehr und mehr zu verschwinden. In den orthodoxen Kirchen hingegen war und ist er fester Bestandteil des rituellen Geräts und steht meistens auf oder hinter dem Altartisch im für Laien unzugänglichen und uneinsehbaren Bereich hinter der Ikonostase.
Nach dem II. Weltkrieg erfährt er jedoch auch in katholischen und evangelischen Kirchen eine Renaissance (Abb. 18). Zwei Absichten sind oft damit verbunden: Zum einen sollen die gemeinsamen Wurzeln von Juden und Christen im Sinne von Römer 11 deutlich gemacht werden. Nach 1945 soll in den Kirchen, die siebenarmige Leuchter aufstellen, zum anderen bewusst an die Schuld erinnert werden, die Christen gegenüber ihren Glaubensgeschwistern auf sich geladen haben (Abb. 19). Die Menora wird so zum Mahnzeichen, die das Verhältnis zwischen Kirche und Synagoge neu interpretiert.
Wird heute eine Menora in einer Kirche aufgestellt oder als Symbol verwendet (Abb. 20), dann ist das weit mehr als Dekoration. In aller Regel geschieht das sehr bewusst. Es ist eine Aneignung eines jüdischen Symbols – ebenso wie das Beten der Psalmen und der Aaronitische Segen im christlichen Gottesdienst eine Aneignung jüdischer Texte ist. Ohne diese Aneignungen gäbe es keine christliche Kirche. Als die „wilden Ölzweige“ haben die Kirchen Anteil bekommen an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums; sie leben davon, indem sie sich beides aneignen. Aneignung darf jedoch niemals mehr Enteignung bedeuten.
Es wäre an der Zeit, dem traditionell antijüdischen Gehalt unserer Tradition ein neues Paradigma christlicher Identität gegenüberzustellen. … Dann wäre es vielleicht möglich, eine ‚christliche Menora‘ … nicht länger als Kampfansage an die Wahrheitsfähigkeit des Judentums zu verstehen. Nicht länger ein Symbol christlichen Triumphalismus, wäre sie dann vielmehr ein eindrucksvolles Zeichen der christlichen Solidarität mit dem Judentum (Markus Heitkämper).
Gemeinden, in deren Kirchen eine Menora steht, gehen immer wieder viele kleine Schritte in diese Richtung weg vom Triumphalismus hin zur Solidarität.
Ein großer Schritt in diese Richtung wird derzeit in Berlin gegangen. Dort entsteht auf dem Petriplatz, dem Gründungsort der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln, etwas Zukunftsweisendes, das 2018 Aufnahme in die Ausstellung „The Future Starts Here“ des Londoner Victoria & Albert Museum gefunden hat (Abb. 21): Mit einer Synagoge, einer Kirche und einer Moschee unter einem Dach bauen Juden, Christen und Muslime gemeinsam ein Haus des Gebets und der interdisziplinären Lehre: ein Haus der Begegnung, für den Austausch von Menschen unterschiedlicher Religionen – auch mit denjenigen, die den Religionen fernstehen (Abb. 22). In der „Charta für ein Miteinander von Judentum, Christentum und Islam bei der Konzipierung, Errichtung und Nutzung des neuen Bet- und Lehrhauses (,House of One‘)“ heißt es:
Wenn es gelingt, das je Eigene der Religionen in großer Offenheit und Öffentlichkeit zu leben, wenn es gelingt, in verschiedenen Perspektiven diesem je Eigenen und Fremden nachzudenken und gemeinsam für andere da zu sein, wenn die Vertreter der drei Religionen so miteinander umgehen, dass nach Religion fragende und suchende Menschen es als Bereicherung wahrnehmen, hinzukommen und sie so (drei) erste Antworten hören - wenn dem so ist, dann wird Berlin an diesem seinem Urort Zukunft gewinnen und das Gute der Religionen zum Besten der Stadt erleben können. Dem Selbstverständnis der drei Religionen folgend, kann das nur so geschehen, dass Unterschiede und theologische Gegensätze nicht überspielt, sondern ausgehalten werden. Die Raumgestalt des Neubaus wird deshalb so beschaffen sein, dass jede der Religionen einen eigenen, separaten Gottesdienstraum nutzen kann („Bethaus“), der sich zu einem gemeinsam zu nutzenden Zentralbereich öffnen lässt („Lehrhaus“). Unvermischt (in getrennten Bereichen) und zugleich in direkter, wahrnehmbarer Nachbarschaft, ist der Neubau Kirche, Synagoge und Moschee „unter einem Dach“.
TuK Bassler, Februar 2020
Zuletzt geändert Februar 2024
Michael Bachmann, Das Freiburger Münster und seine Juden. Historische, ikonographische und hermeneutische Beobachtungen, Regensburg 2017
Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 1977
Peter Bloch, Siebenarmige Leuchter in christlichen Kirchen, Wallraf-Richartz-Jahrbuch XXIII, Köln 1961, 55-190
Lion Feuchtwanger, Heinrich Heines „Rabbi von Bacharach“. Mit Heines Erzählfragment. Eine kritische Studie, Frankfurt 1985
Markus Heitkämper, Über Aneignung und Enteignung. Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Essen, Artikel veröffentlicht am 6. Juni 2013
Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Teil 2, Göttingen 2007
Rabbi Dr. Miller, Aus der Rubrik „Frag’ den Rabbi“: Menora oder Chanukka-Leuchter, www.hagalil.com/judentum/rabbi/140512.htm
Jean-Luc Nancy, Der ausgeschlossene Jude in uns, Zürich 2018
Otto Böcher, Johannesoffenbarung und Kirchenbau. Das Gotteshaus als Himmelsstadt, Neukirchen-Vluyn, 2010
David Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, Darmstadt 2013
Rall, Markus, Benno Elkan, www.benno-elkan.de
Frieder Schwitzgebel, Toleranz vor Augen. Das Projekt von Karl-Martin Hartmann in der Wernerkapelle Bacharach in Zusammenarbeit mit dem Bauverein Wernerkapelle, Mainz 2010.
Verein Bet- und Lehrhaus Petriplatz Berlin e.V., Charta für ein Miteinander von Judentum, Christentum und Islam bei der Konzipierung, Errichtung und Nutzung des neuen Bet- und Lehrhauses („House of One“) auf dem Petriplatz Berlin, house-of-one.org/sites/default/files/downloads/houseofonechartadt.pdf