Zu Beginn des Jahres 2024 gehen in Deutschland die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße. Bei den Demonstrationen gegen rechts setzen sie sich dafür ein, die Demokratie in einem gemeinsamen Europa zu verteidigen und einzutreten für die gleichen Rechte aller hier lebenden Frauen, Männer und Kinder, unabhängig von ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit. Die zunehmende Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Faschismus ist endlich von vielen in ihrer Bedrohlichkeit erkannt worden. „Nie wieder ist jetzt“ heißt es auf manchen Transparenten, und gemeint ist, dass sich die Machtübernahme durch die extreme Rechte mit all ihren mörderischen Folgen niemals mehr wiederholen darf, und dass es jetzt darauf ankommt, dagegen einzutreten.
Das ist die rechte Zeit, an eine Frau zu erinnern, die beispielhaft für die Überwindung ethnischer, kultureller und religiöser Grenzen in einer europäischen Gemeinschaft steht, die eine Brücke zwischen Judentum und Christentum schlug und 1942 in Auschwitz vergast wurde: Edith Stein (Abb. 1). In manch einer Kirche wird an sie, die Jüdin und Karmelitin mit dem Ordensnamen Teresia Benedicta vom Kreuz, erinnert (Abb. 2); Kirchengemeinden, Bildungsstätten und Studentinnenwohnheime benennen sich nach ihr. Von Papst Johannes Paul II. wurde sie ein Jahr nach ihrer Heiligsprechung im Oktober 1999 zur Schutzpatronin Europas ernannt und steht mit Benedikt von Nursia (Abb. 3), Kyrill, Methodius, Katharina von Siena und Birgitta von Schweden als Fürsprecherin Europas in einer Reihe. Nicht zufällig ist sie darum in Europas Hauptstadt Brüssel zu finden (Abb. 4).
Geboren wurde Edith Stein am 12. Oktober 1891 als Jüngstes von elf Kindern in Breslau. Als ihr Vater, der mit Holz und Baustoffen handelte, starb, war sie noch keine zwei Jahre alt. Ihre Mutter Auguste Stein, im jüdischen Glauben tief verwurzelt, übernahm das Geschäft und zog nebenher ihre Kinderschar groß. Wissbegierig und mit einem hervorragenden Abitur ausgestattet studierte Edith erst in Breslau und dann in Göttingen (Abb. 5) Philosophie, Germanistik und Geschichte und schloss sowohl mit dem Staatsexamen als Lehrerin (1915) als auch mit dem Doktorexamen (1916) ab. In Göttingen engagierte sie sich im „Preußischen Verein für Frauenstimmrecht“ und verfasste eine erste Seminararbeit, die den Niederschlag der Parteiprogramme im Verfassungsentwurf der Frankfurter Paulskirche von 1849 untersuchte (Abb. 6).
Ihre Dissertation schrieb Edith Stein bei Edmund Husserl, dem Begründer der philosophischen Richtung der Phänomenologie über das „Problem der Einfühlung“. Als seine Assistentin nahm Husserl sie mit nach Freiburg, wo er 1916 einen Lehrstuhl erhielt. Zwei Jahre wohnte Edith Stein in Freiburg, u.a. in der Zasiusstraße 24, wo ein Stolperstein an sie erinnert (Abb. 7). Das Fenster, das ihr im Freiburger Münster gewidmet ist, zeigt sie als Karmelitin. Der Künstler Hans-Günther van Look gestaltete ihr Gesicht nach einem Passfoto aus dem Jahr 1938. Sie steht zusammen mit einer Zypresse sowie den Symbolen des Judentums (siebenarmiger Leuchter) und des Christentums (Kreuz) vor dem Gebirge Karmel im Heiligen Land (Abb. 8).
Obwohl Edith Stein ihre Doktorprüfung mit der Bestnote „summa cum laude“ bestand, wurden alle Bewerbungen der leidenschaftlichen Wissenschaftlerin um die Habilitation sowohl in Göttingen als auch an anderen Universitäten abgelehnt, weil sie Frau und Jüdin war. Von 1922 bis 1932 arbeitete Edith Stein als Lehrerin am Mädchenlyzeum und am Lehrerinnenseminar der Dominikanerinnen in Speyer (Abb. 9-11) und war 1932 Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster, bis der nationalsozialistische „Arierparagraph“ 1933 das Ende ihrer Lehrtätigkeit erzwang. In Münster fiel die Entscheidung für den langersehnten Eintritt in den Karmel: „Am 30. April – es war der Sonntag vom Guten Hirten – wurde in der Ludgerikirche das Fest des hl. Ludgerus mit 13stündigem Gebet gefeiert. Am späten Nachmittag ging ich dorthin und sagte mir: Ich gehe nicht wieder fort, ehe ich Klarheit habe, ob ich jetzt in den Karmel gehen darf. Als der Schlußsegen gegeben war, hatte ich das Jawort des Guten Hirten“ (Abb. 12). Auch im Karmel in Köln setzte Edith Stein ebenso wie im niederländischen Karmel in Echt (ab Silvester 1938) ihre wissenschaftlichen Arbeiten fort.
In ihrer religiösen Suche war Edith Stein lange offen gewesen. In ihren Erinnerungen „Aus dem Leben einer jüdischen Familie“ schrieb sie: „Wir traten für einige Minuten in den [Frankfurter] Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können“ (Herbstrith, S. 52 f.; Abb. 13).
Zeitlebens hatte Edith Stein auch jüdische und evangelische Freunde, ließ sich aber nach der Begegnung mit den Schriften der Mystikerin Teresa von Avila 1922 katholisch taufen – mit der evangelischen Philosophin Hedwig Conrad-Martius an ihrer Seite. Ihr Christsein sah sie nicht als Abfall vom Judentum an, sondern als eine Bereicherung, als einen Weg, der für sie persönlich der Richtige war, zu dem sie aber sonst niemanden hindrängte. Als sie 1933 in den von Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila (Abb. 14) erneuerten Orden der Karmelitinnen eintrat, wollte sie für beide einstehen: Christen wie Juden. Der Karmel war für sie dafür der geeignete Platz: Er ist der einzige christliche Orden, der seine Wurzeln im Heiligen Land hat. Sein Name leitet sich möglicherweise ab vom hebräischen kerem el, (Weinberg Gottes), und bezeichnet einen Gebirgszug in Nordisrael im Bezirk Haifa (Abb. 15). Von Anfang an verbindet der Karmel Juden und Christen, Hebräische Bibel und Neues Testament, Orient und Okzident.
Edith Stein suchte im Karmel das Verbindende, musste aber auch die Erfahrung machen, von beiden Seiten, der jüdischen und der christlichen, nicht verstanden zu werden. Von Teilen ihrer jüdischen Familie, insbesondere von ihrer Mutter, wurde ihr Übertritt zum Christentum und noch mehr ihr Klostereintritt als Zeichen der Entfremdung verstanden. Aber auch die Kirche versagte ihr Wesentliches an Unterstützung: Sie wandte sich im April 1933 schriftlich an Papst Pius XI. mit der Bitte um eine Privataudienz, um ihn bei dieser Gelegenheit für eine Enzyklika zum Schutz der Juden zu gewinnen – vergeblich. Im Vatikan, von wo aus sie 1987 selig- und 1998 heiliggesprochen wurde, hielt man es im Jahr der Machtergreifung Hitlers nicht für nötig, sie zu empfangen.
Umso erfreulicher ist es, wie sich die römisch-katholischen Bischöfe in Deutschland 2024 gegen Rechtsextremismus positionieren: "Wir sagen mit aller Klarheit: Völkischer Nationalismus ist mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild unvereinbar. Rechtsextreme Parteien und solche, die am Rande dieser Ideologie wuchern, können für Christinnen und Christen daher kein Ort ihrer politischen Betätigung sein und sind auch nicht wählbar. Die Verbreitung rechtsextremer Parolen – dazu gehören insbesondere Rassismus und Antisemitismus – ist überdies mit einem haupt- oder ehrenamtlichen Dienst in der Kirche unvereinbar." Der Warnung vor der AfD-Wahl hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) angeschlossen. Der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg bezog dazu bereits Anfang Februar 2024 Stellung: "Als Christinnen und Christen glauben wir, dass jeder Mensch Gottes Geschöpf und Ebenbild ist. Er hat eine gottgeschenkte Menschenwürde, die unantastbar ist. Wer die Menschenwürde derart mit Füßen tritt, wie es die AfD tut, ist für Christinnen und Christen nicht wählbar! Das ist keine parteipolitische Aussage, sondern eine theologische."
Edith Stein bezog auch hinter Klostermauern eine klare politische Haltung. „Eine Mitschwester berichtet: Edith Stein übte Kritik an Hitler und durchschaute schon damals seine Politik. Sie litt darunter, daß nicht alle in Echt ihre Ansicht teilen konnten. Auch im Karmel in Köln war bei den Wahlen […] 1938 aufgefallen, daß die sonst freundliche und liebenswürdige Schwester sich sehr erregte. Einige Schwestern waren nämlich der Auffassung, es sei gleichgültig, welchen Namen man aufschriebe, da die Wahlzettel doch von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet würden. Aber gegen diese Auffassung erhob Edith Stein mit großem Eifer ihre Stimme. Die sonst so Sanfte und Nachgiebige war nicht mehr zu erkennen. Immer wieder beschwor sie die Schwestern, Hitler nicht zu wählen, ganz gleich, welche Folgen für den einzelnen oder die Gemeinschaft daraus entstünden. Daß Edith Stein mit ihrer klarsichtigen Haltung gegenüber dem Nazi-Regime in beiden Klöstern innerlich sehr einsam dastand, geht aus den Berichten beider Konvente hervor“ (Herbstrith, S. 20).
Im Juli 1942 schickten die niederländischen Kirchen ein Protesttelegramm an den Reichskommissar Seyß-Inquart gegen die Judendeportation, das in evangelischen und zusammen mit einem Hirtenwort in allen katholischen Kirchen der Niederlande verlesen wurde. Als Racheakt des Regimes wurden alle katholisch getauften Juden am 2. August 1942 verhaftet, darunter Edith Stein und ihre Schwester Rosa. Sie werden in das Sammellager Westerbork gebracht, am 7. August nach Auschwitz deportiert und am 9. August beide durch Vergasen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet.
„Ich weiß mich gehalten und habe darin Ruhe und Sicherheit – nicht die selbstgewisse Sicherheit des Mannes, der in eigener Kraft auf festem Boden steht, aber die süße und selige Sicherheit des Kindes, das von einem starken Arm getragen wird –, eine sachlich betrachtet, nicht weniger vernünftige Sicherheit. Oder wäre das Kind ,vernünftig‘, das beständig in der Angst lebte, die Mutter könnte es fallen lassen? … Wenn Er mir durch den Mund des Propheten sagt, daß Er treuer als Vater und Mutter zu mir stehe, ja, daß Er die Liebe selbst sei, dann sehe ich ein, wie ,vernünftig‘ mein Vertrauen auf den Arm ist, der mich hält, und wie töricht alle Angst vor dem Sturz ins Nichts – wenn ich mich nicht selbst aus dem bergenden Arm losreiße“ (Edith Stein, aus: Endliches und ewiges Sein, 1935-1936, in: Herbstrith, S. 175).
von Carlo Maria Kardinal Martini (1927–2012)
Vater der Menschheit,
Herr der Geschichte!
Sieh auf diesen Kontinent,
dem du die Philosophen, die Gesetzgeber und die Weisen gesandt hast,
Vorläufer des Glaubens an deinen Sohn, der gestorben und wieder auferstanden ist.
Sieh auf diese Völker, denen das Evangelium verkündet wurde,
durch Petrus und durch Paulus,
durch die Propheten,
durch die Mönche und die Heiligen.
Sieh auf diese Regionen,
getränkt mit dem Blut der Märtyrer,
berührt durch die Stimme der Reformatoren.
Sieh auf diese Völker, durch vielerlei Bande miteinander verbunden,
und getrennt durch den Hass und den Krieg.
Gib, dass wir uns einsetzen
für ein Europa des Geistes,
das nicht nur auf wirtschaftlichen Verträgen gegründet ist,
sondern auch auf menschlichen und ewigen Werten:
Ein Europa, fähig zur Versöhnung,
zwischen Völkern und Kirchen,
bereit um den Fremden aufzunehmen,
respektvoll gegenüber jedweder Würde.
Gib, dass wir voll Vertrauen unsere Aufgabe annehmen,
jenes Bündnis zwischen den Völkern zu unterstützen und zu fördern,
durch das allen Kontinenten zuteil werden soll
die Gerechtigkeit und das Brot,
die Freiheit und der Friede.
AMEN.
TuK Bassler, Februar 2024
EKD-Ratsvorsitzende Fehrs schließt sich Warnung vor AfD-Wahl an, https://www.ekd.de/ekd-ratsvorsitzende-fehrs-schliesst-sich-warnung-vor-afd-wahl-an-82908.htm Abgerufen 27.02.2024.
Christian Feldmann: Edith Stein, rororo Monographie, 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg, 2019.
Deutsche Bischofskonferenz: Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar, https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2024/2024-023a-Anlage1-Pressebericht-Erklaerung-der-deutschen-Bischoefe.pdf Abgerufen 26.02.2024.
Ernst-Wilhelm Gohl: AfD ist für Christinnen und Christen nicht wählbar, https://www.ekd.de/afd-ist-fuer-christinnen-und-christen-nicht-waehlbar-82622.htm Abgerufen 26.02.2024.
Waltraud Herbstrith (Hg.): Edith Stein – Aus der Tiefe leben. Ein Textbrevier, 3. Auflage, Kevelaer, 2018.
Marcus Knaup und Harald Seubert (Hg.): Edith Stein-Lexikon, Freiburg, 2017.
Carlo Maria Kardinal Martini (Erzbischof von Mailand, 1986–1993 Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen): Gebet für Europa, https://www.renovabis.de/hintergrund/die-renovabis-ikone-sechs-patrone-europas# Abgerufen 04.02.2024
Heike Mittmann: Edith-Stein-Fenster, https://www.muensterfabrikfonds.de/freiburger-muenster/muenster/kunstwerke-highlights/edith-stein-fenster/ Abgerufen 20.02.2024